AVATARIUM - Überschäumende Ideen und dynamische Prozesse


Nach dem Auftakt der Tour in Dänemark und ihrem Gig im Klubsen in Hamburg sind Avatarium wieder im Ruhrgebiet. Schon im Sommer hatten sie auf dem Rock Hard Festival die Zuschauer und Kritiker auch mit ihrer Live-Performance überzeugt. Jetzt sind sie nach der Veröffentlichung ihres aktuellen Albums `The Girl With The Raven Mask‘ Ende Oktober mit Honeymoon Disease (Göteborg) und Vintage Caravan (Island) als Support quer durch Europa unterwegs. Genau wie wir haben die Bands auf ihrer Fahrt von Hamburg die Freuden deutscher Autobahnen an einem Freitagnachmittag genießen dürfen und waren wohl etwas erschöpft, als sie im Turock ankamen. Trotzdem nahm sich Jennie-Ann Smith mit ihrer gewohnt herzlichen Art Zeit für ein Interview. Im großzügigen Backstage, besser gesagt Upstage-Bereich des Turock, gab sie uns entspannt und mit absoluter Konzentration, Offenheit und Ehrlichkeit das Gefühl, einen Plausch mit Freunden zu führen.

logoAndrea: Hey Jennie-Ann. Vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview nimmst, obwohl ihr eine anstrengende Fahrt hinter euch habt und eine Tour ohne Off-Day quer durch Europa vor euch.

Jennie-Ann: Kein Problem. Ich freue mich, euch wiederzusehen. Wir haben uns doch länger beim Rock Hard Festival unterhalten.

Andrea: Ja genau, euer Auftritt dort war so beeindruckend, dass ich im Graben schon fast vergessen hatte zu fotografieren.

Jennie-Ann: (lacht) Das ist ja großartig!

Andrea: Jetzt stellt ihr also die Songs eures neuen Albums den Fans live vor. Man hat den Eindruck, dass `The Girl With The Raven Mask` doch eine klare Entwicklung im Vergleich zum ersten Album zeigt.

Jennie-Ann: 2013 hatten Leif (Edling, Candlemass) und Mikael (Åkerfeldt, Opeth) auf einer Party die Idee und wie das bei Partys unter Musikern so häufig passiert, endete es mit „Lasst‘ uns eine Band gründen.“ Zusammen mit meinem Mann Marcus (Jiddel, Ex-Evergrey), der in Stockholm ein Studio hat, ging es also los. Leif schäumte über voll Ideen, aber die ersten beiden Songs waren klar mit der Idee einer Männerstimme, nämlich der von Mikael konzipiert. Bei ihm stellte sich aber schnell heraus, dass er mit Opeth doch sehr ausgelastet ist. Marcus rief mich dann an und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mal ins Studium zu kommen und ein paar Songs zu singen. Irgendwie hat es dann von Anfang an funktioniert und ich war dabei. Wir hatten das Glück, für unser Material von mehreren Plattenfirmen Angebote zu bekommen und auswählen zu können. Von da an ging alles rasend schnell und jetzt haben wir schon das zweite Album. Mit Nuclear Blast als Label sind wir sehr zufrieden.

Andrea: Inwieweit hast du denn am Songwriting und Konzept des neuen Albums teilgehabt?

Jennie-Ann: Alle aus der Band haben ihre Ideen, aber Leif ist so schnell und so produktiv, dass die Basis für Musik und Texte schon stand und wir dann gemeinsam die Songs gestalteten. Es ist ein sehr dynamischer Prozess gewesen.

Andrea: Die Texte der Songs und die Grundstimmung sind doch eher düster und traurig. Bringst du deine Erfahrungen aus deinem Beruf als Psycho-Sozial Therapeutin mit ein?

Jennie-Ann: Ich bin der Ansicht, dass das Leben eben genau diese zwei Seiten hat und auch haben muss: das Helle und Fröhliche und das Dunkle und Traurige. Keines kann ohne das andere auskommen. Sicher hat jeder aus der Band bei den Texten seine eigenen Bilder im Kopf von seinen Erfahrungen und Erlebnissen geprägt.

Andrea: Die Gesangsmelodien eurer Stücke sind sehr komplex und bilden häufig einen Kontrast zu den Rhythmen und der Dynamik des Songs. Singst du nach Noten oder nach Gehör?

Jennie-Ann: Ich singe die Songs in den Proben nach Gehör ein. Leider kann ich nicht so gut nach Noten singen. In der Schule hat ein Lehrer mich gefragt, ob ich Lust hätte zu singen. Er hat wohl etwas in meiner Stimme gehört.

Andrea: Deine Stimme entspricht ja absolut nicht dem Stereotyp einer weiblichen Metal-Stimme. Wo liegen deine musikalischen Wurzeln?

Jennie-Ann: Meine Eltern hörten Elvis Presley, und der ist für mich natürlich ein Vorbild. Aber ich habe auch Led Zeppelin und Dio gehört. Als Teenager war man in Proberäumen, -kellern und Garagen und hat versucht, gegen die Instrumente anzukommen. Das stärkt die Stimmbänder (lacht). Und die Rocksänger, die ich mag, wie Robert Plant und Dio, haben auch einen Blues-Touch. Sie würden sicherlich auch Gospel-, Pop-, Blues- und Jazz-Sänger zu ihren Vorbildern zählen, wenn man sie danach fragen würde. So ist es für mich vollkommen normal, diese Grenzen zu überschreiten.

Andrea: Wenn du ans Rock Hard denkst, welche Veranstaltungsorte währen deiner Ansicht nach ideal für eure Musik, große Arenen oder eher kleinere Hallen wie das Turock heute Abend?

Jennie-Ann: Die Arena beim Rock Hard war natürlich großartig. Dieses Amphitheater und hinter der Bühne der Kanal. Das ist schon besonders. Generell denke ich, dass beide Auftrittsmöglichkeiten ihr Für und Wider haben. Bei Festivals erreicht man ein anderes und neues Publikum, was großartig ist. Aber die kurzen Umbaupausen sind natürlich manchmal für die Bands sehr schwierig. Die Monitore sind nicht perfekt eingestellt usw. Aber das ist die Herausforderung. Ich denke, unsere Musik kommt da gut rüber. Gestern Abend waren wir in einer mittelgroßen Halle (Klubsen, Hamburg) und hatten eine sehr intime Atmosphäre, wogegen man bei großen Events wie z.B. dem Graspop so richtig dick auftragen kann. Es ist vollkommen anders, aber unsere Musik funktioniert in beiden Situationen.

Andrea: Ich könnte mir eure Musik auch als Akustik-Set vorstellen. Habt ihr so etwas schon mal geplant?

Jennie-Ann: Wir haben dafür noch keine konkreten Pläne. Aber Marcus und ich machen zuhause viel gemeinsam Musik und unsere Stücke könnte man sicher gut akustisch präsentieren.

Andrea: Für die anderen Bandmitglieder startete Avatarium als Sidekick zu anderen Bands und Projekten. Nach der rasanten Entwicklung und dem Erfolg der letzten beiden Jahre, plant ihr Avatarium zum Full-Time-Job zu machen?

Jennie-Ann: Das kommt natürlich darauf an, was noch passiert. Wir haben ja alle unsere Berufe und Karrieren außerhalb von Avatarium. Ich studiere momentan wieder, Carl ist Arzt, und Lars hatte seine eigene Booking Agency. Marcus ist eigentlich der einzige Vollzeit-Musiker von uns. Aber alle haben natürlich viel getourt. Wir haben wirklich sehr viel Glück gehabt, dass wir in so kurzer Zeit so viel erreicht haben.

avatariumAndrea: Wir würden gerne auch noch sehr viel ernstere Themen ansprechen, wenn das für dich ok ist? Die Leser interessiert natürlich auch wie es Leif geht (er hat 2015 aus gesundheitlichen Gründen keine Auftritte mit Candlemass gemacht. Bei Avatarium spielt Anders Iwers von Tiamat Bass). Geht es ihm wieder besser und wird er in absehbarer Zeit mit euch auf der Bühne stehen?

Jennie-Ann: Das wäre natürlich für uns ein Traum-Szenario. Er ist so ein wichtiges Bandmitglied. Wir sind in ständigem Kontakt und Marcus trifft sich oft mit ihm oder telefoniert. Aber was Gesundheit angeht, kann man nicht wirklich Vorhersagen machen. Niemand weiß, was morgen passiert. Und was die Genesung angeht, sehen wir bei Leif schon Fortschritte. Aber es wäre bei seiner Erkrankung (CFS - Chronic Fatigue Syndrom) auch total verkehrt, ihm mehr Druck zu machen und ihn zu schnell auf die Bühne zu bringen. Aber es geht langsam wieder aufwärts.

Andrea: Das ist natürlich sehr erfreulich. Wie fühlt es sich zurzeit für euch an, auf der Bühne zu stehen, nach dem was in Paris passiert ist?

Jennie-Ann: (wird sehr ernst) Es hat uns sehr betroffen gemacht und um ehrlich zu sein, hatte ich große Bedenken. Ich habe mich gefragt, ob es ein Risiko ist oder überhaupt angebracht, danach aufzutreten und unsere Tour Pläne umzusetzen. Aber wenn man es durchdenkt, wirklich durchdenkt, haben diese schrecklichen Taten doch das Ziel, unsere Freiheit zu zerstören: etwas wofür wir alle hier in Europa so hart gearbeitet haben. Wir haben zwei große Weltkriege überstanden und hart dafür gearbeitet, dass wir heute demokratische Systeme haben, die Redefreiheit und die Freiheit, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Wir alle sind dafür verantwortlich, unsere demokratischen Gesellschaften zu erhalten. Und dafür ist die Kultur, die Literatur, die Musik unbedingt notwendig. Und das müssen wir unbedingt am Leben halten. Unser Job ist es, Musik zu verbreiten und hoffentlich auch Liebe. Aber ich weiß, dass sich meine Verwandten Sorgen um uns machen, jetzt wo wir auf Tour sind.

Andrea: Wir bewundern jeden Künstler, der so denkt und handelt und weiter auf der Bühne steht, aber auch die Fans, die weiter in die Clubs kommen.

Jennie-Ann: Das ist genau das, was wir gemeinsam tun können.

Andrea: Wisst ihr schon, wo man euch 2016 sehen kann?

Jennie-Ann: Wir haben schon viele Angebote bekommen, haben aber konkret noch nicht alles entschieden. Wir werden aber sicher auch auf Festivals auftreten.

Andrea: Vielen Dank Jennie für das nette Gespräch. Wir wünschen euch für die Tour viel Erfolg und Spaß und hoffen, dass wir euch 2016 in Deutschland wieder sehen können. Tack så mycket (Anmerkungen für die Leser unsererseits)!



Autor: Andrea Breitenbach