GENESIS - SELLING ENGLAND BY THE POUND

Label: | CHARISMA (UK) / ATLANTIC (US) |
Jahr: | 1973 |
Running Time: | 53:39 |
Kategorie: |
Classics |
„So abstrakt wie Peter Gabriels Musikvideos, so abstrakt war auch seine Musik mit Genesis“, hat mir ein Kollege mal die Musik von Genesis in den Siebzigern beschrieben. Damals war ich 19 Jahre alt und kannte nur die Standard-Hits wie „Invisible Touch“, „Land Of Confusion“, „I Can´t Dance“ und „Jesus He Knows Me“, bei denen immer Phil Collins gesungen hatte. Aus heutiger Sicht ist schon erstaunlich, wie sehr sich Bands musikalisch verändert haben, ohne den Namen zu wechseln. Alt eingesessene Fans fühlten sich sicher vor den Kopf gestoßen. Nicht nur bei Yes oder Barclay James Harvest war das der Fall, sondern auch bei Genesis. Ich muss dazu sagen, dass ich zunächst skeptisch war, weil ich die Solo-Sachen von Peter Gabriel und Phil Collins nie mochte. Doch was ich dann vernahm, als ich „Selling England By The Pound“ zum ersten Mal hörte, hat mich völlig weggeblasen und mein Leben verändert. Ich tauchte in die wundersame Welt des Siebziger Progressive Rock ein. Bis dahin kannte ich in dem Bereich nur Rush. Was war das für ein gewaltiges Album! Das Artwork ist schon abstrakt, aber genauso klingt dieses Meisterwerk auch! Ruhig und folkig beginnt der Opener „Dancing With The Moonlit Knight“ mit einem abgefahrenen, schwierig zu deutenden Text, der genauso zauberhaft wirkt wie die Musik.
Gezupfte Gitarren und Flöten begleiten den Gesang. Nach zwei Minuten wird man aus der Trance geholt, und es wird sogar richtig rockig! Danach zeigen die Engländer, was sie handwerklich drauf haben! Es wird verspielt und frickelig. Man steigert sich in Extase. Viele Spielereien, wie zum Beispiel unvorhersehbare Trommelwirbel, sorgen für viel Dampf. Die ersten acht Minuten waren schon atemberaubend! Das darauf folgende „I Know What I Like (In Your Wardrobe)“ ist dagegen kurz und eingängig und gefällt mir auch am wenigsten. Weiter geht es mit „Firth Or Fifth“, einem Neuneinhalb-Minuten-Monster, das mit einem flotten Piano-Intro beginnt, welches mich stark an die Frühphase von Spock´s Beard erinnert (die es damals natürlich noch nicht gab, die ich aber zu dem Zeitpunkt schon kannte). Hier gibt es zwar einen verträumten Mittelteil, aber man findet wieder in rockige Gefilde zurück. Die ruhige Akustiknummer „More Fool Me“, die die A-Seite abschließt, wird dann von Phil Collins gesungen. Hier ist seine Stimmlage noch sehr hoch, und es klingt alles noch ein bisschen unbeholfen. Aber nach dem dem langen „Firth Or Fifth“ zuvor könnte man es auch fast alle eine Art Ausklang werten. Folkig mit Flöten und Marschtrommeln beginnt die B-Seite mit dem pompösen Elf-Minuten-Epos „The Battle Of Epping Forest“, das von einer schönen Hammond Orgel geführt wird. Das Schlagzeug ist zwar abgefahren gespielt, treibt aber dennoch nach vorne.
Keine Ahnung, wie das geht, aber es funktioniert. Das ruhige Zusammenspiel von Nylon-Gitarre und Klavier zu Beginn von „After The Ordeal“ verbreitet mittelalterliches Flair, bleibt aber instrumetal, mit einem schönen, verträumten Gitarrensolo. Der Vorhang fällt für „The Cinema Show“. Erneut wird die Elf-Minuten-Grenze überschritten. Hier fahren Genesis wieder ihr gesamtes Können auf. Bei den ruhigen Akustikgitarren am Anfang bleibt es natürlich nicht. Auch wenn es knapp zwei Minuten dauert, bis das Schlagzeug endlich einsetzt. Phil Collins erzeugt dabei auf der Hi-Hat einen unglaublichen Drive, der sich nur schwer beschreiben lässt. Flöten im Mittelteil lockern alles ein bisschen auf. Ein verträumtes Solo folgt. Irgendwie schaffen Genesis es scheinbar spielend, Rock mit ein bisschen Jazz zu kombinieren und den Hörer mit haufenweise schönen Melodien zu verzaubern. Obwohl hier viel passiert, ist man nie überfordert, sondern taucht im Spielfluss der Band immer weiter mit in die Musik ein. Beim anderthalbminütigen Abschlusstrack „Aisle Of Plenty“ werden die Gesangsmelodie und der atmosphärische Keyboard-Part des Openers „Dancing With The Moonlit Knight“ etwas abgewandelt wiederholt, sodass an das Gefühl hat, dass man es mit einem Konzept-Album zu tun hat und der Kreis geschlossen wird.
Peter Gabriels Gesang erinnert mich auf dem Album noch sehr an Fish von Marillion (Eigentlich ist es natürlich andersrum, denn Marillion gab es ja noch gar nicht!). Textlich ging man hier weg von mythischen und Fantasy-Themen, auch wenn man das eigentlich gar nicht bemerkt. So ist der Opener eine Satire auf die englische Gesellschaft, während es bei „The Battle Of Epping Forest“ um Kämpfe von Jugendbanden im gleichnamigen Verwaltungsbezirk geht. Vom Titel klingt es für mich aber eher wie die Vertonung eines Fantasy-Romans. Ich kenne viele Leute, die „Selling England By The Pound“ als bestes Genesis-Werk überhaupt ansehen. Ich würde mich dem ohne jegliche Einwände anschließen. Und obwohl mit „I Know What I Like (In Your Wardrobe)“ und „More Fool Me“ zwei unspektakuläre Songs drauf sind, die man auch getrost wegzappen könnte, wäre alles andere als die Höchstnote eine Frechheit, denn das Album funktioniert genauso eben nur in seiner Gesamtheit! Jeder, der sich für alten Progressive Rock interessiert, muss diese LP besitzen; und zwar ohne Widerrede! Mein absolutes Lieblings-Progressive Rock-Album aus den Siebzigern!
Tracklist:
Seite 1:
Dancing With The Moonlit Knight (8:03)
I Know What I Like (In Your Wardrobe) (4:07)
Firth Or Fifth (9:38)
More Fool Me (3:10)
Seite 2:
The Battle Of Epping Forest (11:44)
After The Ordeal (4:13)
The Cinema Show (11:05)
Aisle Of Plenty (1:33)
Line-Up:
Peter Gabriel – Vocals, Flute, Oboe, Percussion
Steve Hackett – E-Guitar, Nylon Guitar
Tony Banks – Organ, Mellotron, Synthesizer, Piano, 12-Strings Guitar, Backing Vocals
Mike Rutherford – Bass, Backing Vocals
Phil Collins – Drums, Percussion, Vocals on "More Fool Me"
Note: 10 von 10 Punkten
Autor: Daniel Müller