An einem Sonntag Abend, wo der VfL Bochum zu Hause ausgerechnet gegen den neuen deutschen Meister Bayer 04 Leverkusen um den Klassenerhalt kämpfen muss, finden sich ein paar Kilometer weiter knapp fünfhundert Leute ein, um 40 Jahre Rage zu feiern. Auch bei anderen Großveranstaltungen ziehen sie in ihrem Quasi-Heimspiel (die Band kommt aus dem benachbarten Herne) eine Menge Leute an, was wohl auch ein Indiz dafür ist, dass das neue Doppel-Album „Afterlifelines" ein richtiger Kracher geworden ist. Vorher gibt es aber zwei Support-Bands, die mir beide unbekannt sind, tatsächlich nichts mit der Musik des Headliners zu tun haben, aber dennoch das Publikum von Anfang an überzeugen können.
Um 20 Uhr beginnen Broken Fate, eine Melodic Death-/Thrash Metal-Band aus der Schweiz, die bereits drei Alben auf dem Markt hat. So voll habe ich die Zeche bei einer ersten Band noch nie gesehen. Und das wirkt sich auch positiv auf die Band aus, die zwar angeschlagen, aber hochmotiviert ist. „Hier brauche ich Eure Stimmen. Ich habe nämlich keine mehr", sagt Sänger Tobias John Bänteli direkt nach dem Opener. „Mein Hochdeutsch ist nach vier Tagen immer noch nicht gut, aber ich hoffe, Ihr versteht uns", entschuldigt sich Basser Patrick Van Gunten. Alle vier Mitglieder tragen kurze Haare. Zwei von ihnen tragen Shirts von Parkway Drive und As I Lay Dying. Grund genug für mich, ohne sonderliche Erwartungen ranzugehen. Doch Halt! Was diese Band für eine Energie hat, ist unglaublich! Die Jungs headbangen und laufen über die Bühne, was das Zeug hält. Hier ist viel Bewegung drin. Mit unterhaltsamen Ansagen hat man das Volk auf seiner Seite. Zwei Running Gags begleiten wie ein roter Faden ihre gesamte Show: der Schlachtruf „Uh!", den das Publikum auf Kommando mitmacht, sowie den Ausruf „Bös!" von Sänger Tobi, der damit seiner Begeisterung für diesen Abend Ausdruck verleiht. Die Musik von Broken Fate ist zwar zeitgemäß, aber groovig wie Sau. Die Spielfreude ist hoch, und auch der raue und kraftvolle, aber dennoch melodische Gesang überzeugen auf ganzer Linie. „Wir kommen hoffentlich bald wieder, mit neunzig Minuten oder zwei Stunden Spielzeit und besserer Stimme", äußert der Frontmann noch schnell einen Wunsch, bevor es eine letzte Zugabe gibt. Ich bin positiv überrascht und beeindruckt! Beide Daumen hoch!
Mission In Black müssen leider krankheitsbedingt absagen und werden spontan durch Tri State Corner ersetzt, die ich bislang nur vom Namen her kannte. Sie hatten ihre Tour eigentlich erst letzten Dienstag beendet und geben heute nochmal eine Zugabe. Hier tun sich für mich gleich mehrere Überraschungen auf: Denn die Band kommt zur Hälfte aus dem Rage-Umfeld, ohne musikalische Gemeinsamkeiten mit ihnen zu haben. Refuge- und Ex-Rage-Trommler Christos Efthimiadis sitzt hier nämlich hinter der Schießbude, und der jetztige Rage-Drummer Vassilios „Lucky" Maniatopoulos übernimmt bei Tri State Corner den Hauptgesang. Und was für einen! Dass er am Schlagzeug mehr als fit ist, ist mir längst bekannt. Aber ich bin echt perplex, wie hell, klar und kraftvoll er auch singen kann und mit seinen unterhaltsamen Ansagen auch das Publikum sofort im Griff hat. Wie gesagt: Es gibt einige Überaschungen, denn auch die Tatsache, dass die Band ohne Bassist, dafür aber mit einer Sitar auffährt, wodurch viele Melodieläufe ein wenig orientalisch klingen, zeugt für Innovation. Der Gitarrist sieht mit seinem Sakko, der Sonnenbrille und dem Hut aus wie bei ZZ Top entsprungen. Sänger Vassilios Maniatopoulos erinnert mich mit seiner durchtrainierten Statur und seiner Kopfbedeckung irgendwie an Torsten Sträter. Der Sitarspieler sieht aus wie ein vornehmer Restaurant-Besitzer. Und die Musik? Die kann einges! Ich würde es, grob gesehen, als Alternative Rock bezeichnen, obwohl mir passende Vergleiche zu anderen Bands nicht einfallen wollen. „Wir sind es gar nicht mehr gewohnt, vor so vielen bekannten Gesichtern zu spielen", begrüßt Vassilios die Bochumer Fans. Die Halle ist mittlerweile fast vollständig gefüllt, als seien Tri Sate Corner der Headliner. Auch das überrascht, wenn man bedenkt, dass sie musikalisch heute aus dem Rahmen fallen. Das macht aber nichts. Die Band ist richtig gut drauf, begeistert mit eigenwilligem Sound und viel Spielfreude und legt einen energiegeladenen Gig hin. „Über tausend Konzerte in 39 Ländern auf vier Kontinenten" haben sie in den siebzehn Jahren schon absolviert, in denen die Besetzung bis heute unverändert ist. Das merkt man auch. Dass sie dagegen fast immer Support waren, dagegen nicht. Hier passt heute einfach alles, und das bei glasklarem Sound! Das merkt die Menge auch und feiert die Band gebührend ab. Ein sehr gelungener Auftritt!
Dieses Mal ist die Umbaupause nur sehr kurz. Aus den Neunzigern bin ich es gewöhnt, dass in der Zeche immer schon gegen 22:30 Uhr Schluss ist. Heute klappt das nicht, denn Rage betreten erst um 22 Uhr die Bühne. Vierzig Jahre besteht die Band nun schon. Vierzig Jahre und 25 Alben in anderthalb Stunden zu packen, ist natürlich unmöglich. Dennoch schaffen die Ruhrpottler es gekonnt, alle Phasen der Band in der Setlist abzudecken. Mit „Straight To Hell" und „Great Old Ones" finden sogar zwei Songs aus der Viktor Smolski-Ära den Weg ins Set, was mich persönlich sehr freut. Die Band legt direkt energisch los. Allerdings übertönt das getriggerte Schlagzeug den Rest den Band zunächst sehr. Vor allem die Gitarre von Jean Bormann ist anfangs gar nicht zu hören. Dies verändert sich jedoch im weiteren Verlauf. Peavy ist sofort von der Resonanz der Menge begeistert, und er bedankt sich mehrfach für die Treue der Fans in all den Jahren. Stimmlich ist er ziemlich gut drauf. Selbst die höheren Tonlagen bei den ersten Songs meistert er mit Bravour. Gitarrist Jean ist ständig in Bewegung, bangt und rennt hin und her. Vor „Black In Mind" merkt Peavy an, dass Jean im Erscheinungsjahr des Albums erst geboren wurde. Wie ein Fremdkörper wirkt er trotz seines Alters aber nicht, und er fügt sich super ein. Alle in der Band haben bei ihrem Heimspiel heute richtig Bock und sind sichtlich gut gelaunt. Ich bin beeindruckt, wie kraftvoll und präzise Vassilios wieder trommelt. Der Mann ist eine Maschine! Peavy bedankt sich zum Schluss des regulären Sets noch bei seinen Ex-Mitgliedern, und er weist darauf hin, dass Ex-Gitarrist Manni Schmidt heute auch an der Theke sitzt. Zudem verkündet er, dass Rage am 07.September im Stennert in Herne, wo Rage 1984 ihren ersten Proberaum hatten, ein „Umsonst & Draußen" Open Air veranstalten, wo er auch mit seiner allerersten Band überhaupt einmalig ein paar Songs darbieten wird. Als letzter offizieller Song wird wie immer „Don´t Fear The Winter" gespielt. „Wir gehen zurück in die Achtziger" verkündet Peavy vorher. Als Jean auf der Gitarre „Smoke On The Water" anstimmt, korrogiert ihn Peavy lachend, das seien die Siebziger. Für zwei Zugaben kommen Rage aber nochmal zurück. Es wird weiter in der Vergangenheit gewühlt: Das schleppend gespielte „Prayers Of Steel" von der Vorgänger-Band Avenger drückt ordentlich, bevor man standesgemäß mit der Hymne „Higher Than The Sky" den Auftritt gebührend abschließt. Alle in der Halle singen mit, und Peavy ist sichtlish gerührt. Verständlich! Somit verlassen wir heute um 23:30 Uhr verhältnismäßig spät die Zeche Bochum. Aber der lange Abend hat sihch definitiv gelohnt! Ich werde mir Rage auf dieser Jubiläumstour sicherlich noch einmal ansehen; vielleicht ergibt sich das ja auch bei einer der Orchester-Shows.
Setlist: Cold Desire, Straight To Hell, Solitary Man, Black In Mind, Refuge, Back In Time, Toxic Waves, Days Of December, Let Them Rest In Piece, A New Land, Great Old Ones, End Of All Days, Under A Black Crown, Don´t Fear The Winter, Prayers Of Steel (Avenger-Cover), Higher Than The Sky