Daniel: Hallo Marcel! Glückwunsch erst einmal zu Eurem neuen Album „Verderbnis – Der Schnitter kratzt an jeder Tür“, das ich wirklich sehr gelungen finde! Als ich las, dass Ihr Avantgarde Black Metal macht, habe ich etwas völlig Abgedrehtes (im Stil von Arcturus oder Aborym) erwartet. Ich finde aber, dass das Album ziemlich gradlinig klingt. War das ein bewusster Schritt Eurerseits, quasi eine Rückbesinnung auf Eure Wurzeln?
Marcel: Nun, der Begriff Avantgarde lässt sich erstens nur bedingt und nur auf bestimmte Stellen in unserer Discographie anwenden, daher haben wir ihn eigentlich auch immer abgelehnt. "Verderbnis" ist tatsächlich eine ganz bewusste Konzentration auf eine bestimmte musikalische Ausrichtung. Eine Rückbesinnung würde ich es aber dennoch nicht nennen, das klingt wie ein wiedergefundener Weg, und wir werden wohl nie einem bestimmten Weg folgen.
Daniel: Worum geht es bei diesem Album? Steckt da ein bestimmtes Konzept hinter?
Marcel: Ein wirkliches Konzept gibt es nicht, auch wenn das Themengebiet diesmal eingegrenzt ist auf das Sterben und Enttäuschungen.
Daniel: Eure Albumtitel bestehen alle aus zwei Teilen. Handelt es sich dabei immer um Konzept-Alben? Und worum geht es im Allgemeinen?
Marcel: Konzeptalben sind es in der Regel nicht, nein. Das einzige Album, das wirklich ein eindeutiges inhaltliches Konzept hat, ist "Sequenzen einer Wanderung", und ausgerechnet das hat einen eingliedrigen Titel. Die Sache mit Haupt- und Untertitel hat sich einfach so ergeben, und "Verderbnis-Der Schnitter kratzt an jeder Tür" hatte durchaus auch eingliedrige Konkurrenten. Ich kann mir aber vorstellen, dass wir diese Tradition beibehalten werden, auch wenn dadurch die "Sequenzen" ein wenig ausgesondert werden, was für viele Hörer zwar sicher Sinn macht, für uns aber nicht unbedingt. Letztlich ist es aber okay, da das Album ja auch einen besonderen Stellenwert in der Bandgeschichte hat. Die Beibehaltung dieser Tradition ist andererseits kein Muss.
Daniel: Ich muss zugeben, dass ich nicht alle Eure Alben kenne… Das, was ich gehört habe, klingt aber völlig eigenständig. Ihr wiederholt Euch auch nicht gerade. Woher nehmt Ihr die Einflüsse, dass Nocte Obducta so differenziert klingen? Und haben sich Eure Einflüsse im Laufe der Jahre stark verändert?
Marcel: Die Einflüsse kommen aus allen möglichen Ecken, auch wenn sicher der Black/Death Metal der frühen 90er einen wesentlichen Anteil hat. Dass sich die diversen Einflüsse stark verändert haben, kann man eigentlich nicht sagen. Geändert hat sich eher der Grad, in dem man scheinbar gegensätzliche oder unterschiedliche Richtungen mischt, und das kann mehrere Gründe haben. Es kann an der augenblicklichen Gemütslage liegen, in der man ein Album grob zusammenstellt, an der musikalischen (Un)fähigkeit, an der (fehlenden) Möglichkeit, sich außerhalb von Nocte Obducta musikalisch auszutoben, es kann aber auch Zufall sein, wenn man zum Beispiel bei den Proben mehr oder minder ungeplant in eine bestimmte Richtung taumelt, weil das gerade die Stimmung ist.
Daniel: Würdest Du Nocte Obducta überhaupt noch als Blackmetal-Band bezeichnen?
Marcel: Nein. Wir haben das eigentlich nie getan bzw. nie vorgehabt. Irgendwann sagt man es dann doch, weil es quasi "common sense" ist und man den Leuten ja auch ein Stück weit erklären muss, wie man ganz grob klingt. Ich würde mal sagen, es ist Musik, die maßgeblich vom Black/Death Metal der frühen 90er beeinflusst ist, diese Einflüsse aber auch oft außen vor lässt, weil das Spektrum dessen, was die Mitglieder hören, weitaus breiter ist.
Daniel: Unterscheiden sich Eure Veröffentlichungen alle ganz bewusst voneinander? Ist das Euer Ansporn als Musiker? Oder ergibt sich das immer mehr oder weniger zufällig?
Marcel: Das ist wohl eine Mischung aus beidem, würde ich sagen. So etwas geschieht natürlich bewusst, aber es ergibt sich auch daraus, dass man nicht immer die gleiche Leier abspult. "Lethe" und "Galgendämmerung" andererseits lagen ja nun stilistisch nicht allzu weit auseinander, auch wenn "Galgendämmerung" noch eine Ecke vertrackter und kälter war.
Daniel: Ich stelle es mir schwierig vor, Eure Musik live rüber zu bringen. Spielt Ihr überhaupt live?
Marcel: Ja, wir spielen durchaus live, auch wenn wir das seit 2006 aus naheliegenden Gründen nicht mehr getan haben. Das wird sich aber dieses Jahr wieder ändern. Natürlich kann man das Material nicht immer so umsetzen wie auf Platte, aber das ist auch mittlerweile gar nicht mehr unser Ziel, Bühne und Album sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, das ergibt sich ja alleine schon aus der Songauswahl. Und von einer "angemessenen" Umsetzung mit passender visueller Darbietung haben wir uns aus Kostengründen natürlich ohnehin längst verabschiedet, auf der Bühne geht es uns fast schon klassisch darum, zusammen direkter und spontaner zu spielen und das ganze dreckiger rüberzubringen als auf den Alben.
Daniel: Ihr habt unter dem Bandnamen Desihra angefangen. Warum habt Ihr Euch damals umbenannt? Gab es unter dem Namen auch schon Veröffentlichungen von Euch?
Marcel: Nein, es gab leider keine Veröffentlichungen. Es wären sicherlich auch keine allzu guten geworden, dazu waren wir echt zu schlecht, aber bei so manchem Material ist es traurig, dass es in Vergessenheit geraten ist. Immerhin wurde mit "Der Regen" auf "Stille" ein altes Lied aufbereitet, und auch auf "Taverne", "Nektar 1", "Nektar 2" und den "Sequenzen" haben wir altes Material aufgegriffen, das Leitthema von "Und Pan spielt die Flöte" gehört z.B. dazu. Leider waren wir damals nicht nur technisch noch weit hinter unseren Vorstellungen, wir waren vor allem unglaublich chaotisch und undiszipliniert, und sobald wir einen Song einigermaßen drauf hatten, schmissen wir ihn weg und fingen was Neues an. So kommt man natürlich zu keiner Aufnahme und auch auf keine Bühne, sondern nur zu tausenden Songs, von denen man immer nur drei spielen kann. Wir werden aber auch in Zukunft auf Ideen aus den Jahren 1993 bis 1995 zurückgreifen und auch auf noch ältere Sachen, es ist ja nicht alles gänzlich in Vergessenheit geraten. Zum Namenswechsel entschieden wir uns, weil wir irgendetwas suchten, das dunkler klang, und beim Lesen von "Hannibal" stolperte ich dann über dieses Satzfragment.
Daniel: Ihr seid ja ursprünglich als Nebenprojekt von Agathodaimon entstanden, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Neben Dir war auch Euer Schlagzeuger Matze dort aktiv. Agathodaimon gibt es immer noch. Ihr seid aber beide nicht mehr in der Band. Warum kam es damals zum Split? Oder habt Ihr zu ihnen noch Kontakt?
Marcel: Da liegt ein alter Irrtum vor, von dem ich dachte, er sei mal langsam aus der Welt. Beide Seiten versuchen seit Ende der 90er, klarzumachen, dass die Bands bis auf personelle Überschneidungen nichts miteinander zu tun haben, aber das Gerücht, wir seien ein Ableger von Agathodaimon hält sich anscheinend weiterhin. Desîhra wurden im Sommer 1993 gegründet, als ein mögliches Datum handeln wir den 19. August, denn an diesem Tag wurde das erste Mal eine Eigenkomposition ("Immortal") von mir an der Gitarre und Limbach an den Drums gespielt. Die Umbenennung in Nocte Obducta erfolgte als zwischenzeitliches Zwei-Mann-Projekt gut zwei Jahre später, und in diese Zeit fällt meines Wissens auch die Gründung von Agathodaimon. Die jeweils andere Band und deren Mitglieder waren damals beiden Seiten völlig unbekannt, der Kontakt entstand erst im Frühling 1996. Als dann Ende 1996 die zwei ehemaligen Desîhra-Mitglieder Limbach und S. Magic M. wieder zur Band zurückkamen, war auch Sathonys – seit 2006 einziges verbliebenes Gründungsmitglied bei Agathodaimon – als Basser mit dabei. Matze stieg erst nach Limbachs Ausstieg im Herbst 1997 ein, und meine Aushilfstätigenkeiten bei Agathodaimon beschränken sich auf den Zeitraum Januar bis August 1998.
Daniel: Kommen wir wieder zurück zu Nocte Obducta. Wovon handeln Eure Texte so im Allgemeinen? Es scheinen immer Konzepte dahinter zu stecken. Woher holt Ihr Euch die Inspiration für Eure Texte?
Marcel: Die Texte handeln von wirklich allen möglichen Dingen, auch wenn die sagen wir dunkle Seite einen größeren Raum einnimmt. Es kann der Ausdruck von Gefühlen sein, einfach eine Szene oder ein Bild oder auch autobiografisches. Ein Konzept gibt es da wie schon gesagt nicht, auch wenn ich tatsächlich oft auf ganz bestimmte Bilderwelten zurückgreife oder Texte miteinander verknüpfe und natürlich behandelt man manche Themen auch mehr als einmal oder kehrt für eine neue Geschichte an einen alten Ort zurück.
Daniel: Die EP „Sequenzen einer Wanderung“ erschien 2008 mit knapp zwei Jahren Verspätung. Wie kam es dazu?
Marcel: Es handelt sich hier um ein vollwertiges Album und mitnichten um eine EP. Es kam während der Aufnahmen im Sommer 2006 zu Unstimmigkeiten zwischen der Plattenfirma und dem Produzenten, so dass wir gezwungen waren, die Aufnahmen abzubrechen. Als sich die beiden Parteien dann geeinigt hatten, standen wir vor dem Problem, dass es auf Seiten der Band organisatorisch nicht möglich war, spontan das Album fertigzustellen, was nicht nur an Zeitproblemen lag, sondern auch an dem simplen Umstand, dass das Studio weit entfernt war und ein kurzfristiges Produzieren nach Feierabend oder in der Nacht diesmal nicht zur Debatte stand. Die Stimmung war damals absolut vergiftet und wir als Band verständlicher Weise ziemlich sauer und hilflos. Die Wogen haben sich aber wieder geglättet, und das Verhältnis ist wieder ein besseres, wir sind ja auch alles alte Männer.
Daniel: Nocte Obducta lagen zwischen 2006 und 2011 auf Eis. Wieso habt Ihr Euch eine so lange Auszeit genommen? Gab es Unstimmigkeiten in der Band?
Marcel: Das Thema wurde ja nun in den letzten Jahren wirklich erschöpfend behandelt, das ist jetzt das dritte Album in Folge, bei dem die Sache zur Sprache kommt. Die Luft war raus, wir konnten mit den internen und externen Erwartungen nicht mehr umgehen, dazu kamen private Probleme und ein bröckelnder Zusammenhalt.
Daniel: Die Band sollte unter dem in dieser Zeit unter dem Namen Dinner Auf Uranos weitergeführt werden. Warum habt Ihr diesen Plan wieder verworfen?
Marcel: Weil sich in dieser Periode fast alle Pläne nicht verwirklichen ließen. Hätten wir gewusst, dass es aus teilweise ähnlichen, teilweise auch gänzlich anderen Gründen mit Dinner völlig anders laufen würde als geplant, hätten wir den Namenswechsel vielleicht auch nie öffentlich gemacht ... Aber wenn man dies und das gewusst hätte, wäre wohl so manches anders gelaufen.
Daniel: Welche Zukunftspläne habt ihr denn noch mit Nocte Obducta?
Marcel: Wir sitzen gerade an den Aufnahmen für das nächste Album, das man stilistisch wohl am ehesten in der Ecke der "Stille" wird einordnen können, ein BM-Brett sollte also keiner erwarten. Was danach kommt, wissen wir selber noch nicht so genau, wir haben unterschiedliche grob umrissene Konzepte in der Schublade, unter anderem das Material, das ursprünglich nach "Nektar 2" weiter hätte ausgearbeitet werden sollen und dann auf halber Strecke wieder eingemottet wurde.
Daniel: OK, Marcel! Die letzten Worte gehören Dir!
Marcel: Gna!